Emotionen und Wald

NAV

Vom Waldsterben zum Baumbaden: Der Wald diente immer wieder als Projektionsfläche verschiedener Interessen. Der Wald kann für ökologische Anliegen stehen, als spiritueller Kraftort dienen, für esoterische Rituale genutzt werden oder die Selbstfindung unterstützen. Darin drückt sich die Wertschätzung der Menschen für den Wald aus, die auch positiv für den Wald genutzt werden kann.

Der Wald ist auch eine Projektionsfläche für viele verschiedenen Interessen, Werte und Emotionen.
© Shane Rounce. www.unsplash.com

Frei zugänglicher Naturraum

Wälder sind frei zugänglich und vermitteln das Gefühl eines Freiraums, der gerne mit individuellen Vorstellungen und Wünschen besetzt wird. Wenn ich den Wald in meiner Umgebung für einen Spaziergang betrete, steht mir kein Zaun oder Tor im Weg, das ich öffnen müsste. Ein privates Grundstück wäre klar abgegrenzt und ich würde nicht einfach dort hineinlaufen. Diese ungehinderte Zugänglichkeit des Waldes lässt sich so deuten, dass der Wald allen gehört, auch wenn es in Realität eindeutige Besitzverhältnisse gibt.

Naturraum für Projektionen

Der Wald bietet sich als vermeintlich natürlicher Raum für diverse Projektionen an. Jeder Mensch konstruiert sich einen eigenen Wald in der Fantasie und beansprucht ihn für die eigenen Interessen. Die Lebenswelten der Menschen sind heute so differenziert, dass die wenigsten einen direkten Bezug zur Wald- und Holznutzung haben.

Umso mehr dient der Wald als Symbolträger: für ökologische Anliegen, für ein gesundes Leben, wobei der Wald als Erholungskulisse betrachtet wird, für Vorstellungen von Identität wie Zugehörigkeit zum Wohnort oder generell zur Schweiz, für traditionelle Lebens- und Wirtschaftsformen oder für Anliegen, die in der Tradition der Waldromantik stehen und letztlich der Suche nach Selbsterkenntnis dienen.

Freie Nutzung

Es steht jedem Individuum frei, den Wald nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu nutzen – solange er nicht geschädigt wird. Man kann sich an Tieren und Pflanzen erfreuen, Sport treiben, die Ruhe geniessen oder sich zum Picknick mit Freundinnen und Freunden treffen. Bei all dem kommt vielen der Wald als materielle Ressource nicht in den Sinn, solange er oder sie nicht etwa durch den Lärm von Forstarbeiten gestört wird.

Von der Ökologie zur Selbstfindung

Symbolische Bezüge zum Wald lassen sich bis in die Epoche der Romantik zurückverfolgen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Wald jedoch grundlegend verändert. Neben der Erholung dient der Wald nun auch der Selbstfindung.

Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit verlor der wirtschaftliche Nutzen der Holzproduktion an Bedeutung. Stattdessen rückten ab den 1980er-Jahren der landschaftliche und ökologische Wert des Waldes sowie seine Funktion als Ort für Freizeit und Erholung in den Vordergrund. Die veränderte Wahrnehmung des Waldes zeigte sich besonders in der Diskussion um das sogenannte Waldsterben, das in der Deutschschweiz von 1983 bis 1985 zum dominierenden umweltpolitischen Thema wurde. [1]

Waldsterben schafft Bewusstsein für Umweltanliegen

Am Wald wurden auch immer wieder ideologische Anliegen festgemacht. So förderte die Waldsterbendebatte das Bewusstsein für den Umweltschutz. Charakteristisch für die damalige Diskussion war, dass sie in den Medien und in der Öffentlichkeit sehr emotional geführt wurde und nicht immer auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhte. [2] Immerhin wurde in dieser Zeit, ab 1984, der Schweizer Wald unter wissenschaftliche Dauerbeobachtung gestellt, was zu differenzierten Erkenntnissen über den aktuellen Zustand des Schweizer Waldes führte. [3]

Kundgebung gegen Luftverschmutzung, die für den «Sauren Regen» und damit das Waldsterben verantwortlich gemacht wird. Zürich, Dezember 1986. [10]
© Schweizerisches Sozialarchiv. Foto: Gertrud Vogler, Zürich

Der Wald als Seelsorger

Gerade die starke Inanspruchnahme des Waldes durch Erholungsuchende, das heisst durch eine nicht-wirtschaftliche Nutzung, zeigt, dass die immateriellen Werte des Waldes eine grosse Bedeutung bekommen haben. Das Kapital des Waldes besteht zunehmend aus emotionalen Werten. [4] Der Wald ermöglicht Zufriedenheit, Gelassenheit, Achtsamkeit, Trost sowie Liebe und Glück, wie es beispielsweise die Autorin des ‹Waldkochbuchs› verspricht. Sie schreibt darin: «Wälder tun einfach gut. Hier kann der Mensch entschleunigen, sich erden und inspirieren lassen.» [5] Der Wald eignet sich für allerlei spirituelle und esoterische Praktiken wie Baumbaden oder das Hexenwesen, bei denen der Wald die Bühne für Individualität und Selbstbezogenheit bietet. [6]

Kochrezepte mit Zutaten aus dem Wald verheissen Wellness und Selbstfindung.
© Bernadette Wörndl, Hölker Verlag

Selbstbezogener Blick auf den Wald

Stand bei der ökologischen Wende in den Achtzigerjahren noch die Sorge um den Wald im Vordergrund, so ist es heute vor allem die Sorge um sich selbst, um den selbstbezogenen Blick auf den Wald. Laut dem Philosophen Robert Macfarlene soll der Wald heute Fragen beantworten wie: Was bewirkt der Wald in uns, was macht die Landschaft mit uns? Weiss er vielleicht etwas, das wir nicht wissen? [4] Es sind Fragen, auf die beispielsweise der Bestsellerautor Peter Wohlleben in seinen Büchern Antworten zu finden verspricht. Bereits im Titel ‹Das geheime Leben der Bäume› deuten sich die vermenschlichenden Projektionen auf die Bäume an, die dann im Buch ausgeführt werden. So kümmert sich der ‹Mutterbaum› um seinen Nachwuchs. [7] Wohlleben schreibt den Bäumen eine Seele zu und bedient mit solchen animistischen Zuschreibungen gerade auch esoterische Vorstellungen, über die eine einzelne Person sich in Beziehung zum Wald setzt. Dabei vernachlässigt Wohlleben in seiner anekdotischen Betrachtungsweise die wissenschaftlich erhärteten Zusammenhänge. [8]

Holznutzung und Emotionen im Konflikt

Befragungen zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung über viel Wissen zum Wald verfügt. Dennoch steht dieses manchmal im Widerspruch zu spontanen Äusserungen und individuellen Wünschen.

Der Wald verdient aufgrund seiner vielfältigen Leistungen einen multiperspektivischen Blick. In der Schweiz führt das Bundesamt für Umwelt BAFU regelmässig ein umfassendes Monitoring zum Wissen und zu den Einstellungen der Bevölkerung zum Wald durch. Dabei zeigt sich, dass die Menschen über verschiedene Aspekte und Funktionen des Waldes sehr viel wissen. Die dritte Befragung des BAFU aus dem Jahr 2022, WaMos3, bestätigte im Wesentlichen die Ergebnisse der vorangegangenen Befragungen. [9] Die Menschen halten sich mehrheitlich für gut informiert, Jugendliche etwas weniger als Erwachsene. Sie schätzen die Bedeutung des Waldes als natürlichen Lebensraum und sie nehmen den Wald vor allem als Naturraum wahr. Befragt nach der Bedeutung der Holzproduktion und Holzernte, bewerten immerhin 70 Prozent der Bevölkerung diese als positiv für die Gesellschaft. [9]

75 Prozent der Bevölkerung ist gegenüber der Holzernte positiv oder neutral eingestellt. Die Nutzung des Waldes als Holzproduzent wird unterstützt und verstanden.
© INNOwood 2023 auf Basis WaMos3 des BAFU von 2022 [9]

Positive Einstellungen

Wenn diese Umfragen regelmässig eine so positive Einstellung gegenüber der Waldbewirtschaftung zeigen, warum hat dann ein Peter Wohlleben so viel Erfolg? Und warum müssen sich Forstleute immer wieder mit dem Vorwurf des ‹Baummordes› auseinandersetzen?

Wenn wir nach spontanen Assoziationen zum ‹Wald› gefragt werden, denken wir selten sofort an die Holznutzung. Vielmehr kommen uns positive Bilder in den Sinn. Auch auf Wissensfragen haben wir vielleicht nicht sofort die richtige Antwort parat: Wem gehört der Wald, in dem ich regelmässig spazieren gehe? Und was ist das für ein Wald – ein Urwald, ein Nutzwald?

Aus dem Vorwurf gegen die Forstarbeitenden spricht die Vorstellung von einem beseelten Baum.
© Lukas Denzler

Komplexe Zusammenhänge

Bei Fragen nach Zusammenhängen zwischen Waldfunktionen und Holznutzung oder zwischen Wald, Holz und Möbeln oder Heizungen müssen wir bereits komplexere kognitive Strukturen aktivieren. Es geht dann nicht mehr nur um mein persönliches Wohlbefinden, sondern um weitergehende Aspekte wie die bestehende Nachfrage nach Holz für Möbel und Bauten, die Finanzierung der Waldpflege und die Sicherheit im Wald sowie das Recht des Waldeigentümers auf eine Holzernte. Wenn das Eigentum am Wald in Frage gestellt wird und der Wald in erster Linie Antworten auf die Fragen nach dem Selbst geben soll, geraten die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge leicht aus dem Blick.

Respekt für die symbolischen Werte

Der Wald trägt viele symbolische Werte in sich, die heute von den Forstleuten und der Waldwirtschaft in der Schweiz auch respektiert werden. Diese sind offen für den Dialog mit den Waldnutzenden und nehmen beispielsweise bei der Waldpflege Rücksicht auf kulturell wertvolle Bäume. Der gesamte Schweizer Wald wird naturnah und vielfach extensiv bewirtschaftet. Zudem lassen die Verantwortlichen in Waldreservaten der Natur bewusst freien Lauf. Die vereinzelt gegenüber Forstleuten geäusserten Beschimpfungen als ‹Baummörder› entbehren jeglicher Grundlage, wenn man bedenkt, dass aktuell im Schweizer Wald mehr Holz nachwächst, als genutzt wird. Angesichts der heutigen pfleglichen Waldbewirtschaftung haben die symbolischen Werte des Waldes ihren berechtigten Platz.

Quellen

[1] Della Casa, Philippe, Irniger, Margrit, Schuler, Anton | ‹Wald›. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abgerufen am 23.08.2023.

[2] Holzberger, Ruedi | Das sogenannte Waldsterben. 2. Aufl. Aulendorf: Eppe 2002.

[3] Institut für angewandte Pflanzenbiologie | Wie geht es unserem Wald? 38 Jahre Walddauerbeobachtung, 2021. Abgerufen am 15.8.2023.

[4] Urmersbach, Viktoria | Von wilden Wäldern und der Liebe zur Linde: Waldgeschichten zwischen Realität und Mythos. In: Berr Karsten, Jenal Corinna (Hrsg.), Wald in der Vielfalt möglicher Perspektiven. Von der Pluralität lebensweltlicher Bezüge und wissenschaftlicher Thematisierungen. Berlin: Springer Verlag, 2022.

[5] Wörndl, Bernadette | Das Waldkochbuch. Münster: Hölker Verlag, 2020.

[6] Schmid, Birgit | Begegnung mit einer Hexe, Neue Zürcher Zeitung. 15.8.2023. S. 23.

[7] Wohlleben, Peter | Das geheime Leben der Bäume. München: Ludwig, 2016.

[8] Wingartz, Moritz | Dialog mit Peter Wohlleben. Leutkirch, 9.12.2022. Abgerufen am 19.09.2023.

[9] Bundesamt für Umwelt BAFU (2022). Der Wald aus der Sicht der Schweizer Bevölkerung. Ergebnisse der dritten Bevölkerungsumfrage Waldmonitoring soziokulturell (WaMos 3).

[10] Vogler, Gertrud: Schweizerisches Sozialarchiv, Sozarch_F5107-Na-08-105-02.